Initiativen derHamburg Kreativ Gesellschaft

Kreative Zwischennutzung: „Wichtig ist der gute Raum“

Deutschlands Großstädte suchen Ideen gegen Leerstand. Kreative Zwischennutzungen sind ein wichtiges Instrument – sagt Tina Unruh, Architektin und Geschäftsführerin der Hamburger Stiftung Baukultur. Ein Streifzug durch den „Jupiter“, Deutschlands größtes Modellprojekt.

Kreative Zwischennutzung: „Wichtig ist der gute Raum“ -

Die Rollschuhbahn auf dem Dach des Jupiters kennt Tina Unruh noch aus ihrer Jugend. Damals hieß das Kaufhaus an der Hamburger Einkaufsmeile Mönckebergstraße noch „Karstadt Sports". Nach der Schließung im Oktober 2020 stand das Gebäude fast zwei Jahre leer – um dann als Deutschlands größte kreative Zwischennutzung wiederzueröffnen. Seit Sommer 2022 wird im Jupiter nachhaltige Mode eingekauft, Kunst betrachtet, nach Feierabend Yoga gemacht oder am Sonntag auch getanzt.

Das von der Stadt Hamburg geförderte Projekt ist eine Reaktion auf die Entwicklung der Innenstadt. Die Einzelhandelsumsätze an der Mönckebergstraße liegen im März 2023 immer noch rund fünf Prozent unter denen vor der Pandemie. Knapp außerhalb der Sichtweite der Dachterrasse wird in der HafenCity an einem 80.000 Quadratmeter großen Mega-Einkaufszentrum gebaut, das weitere Kaufinteressierte aus der Innenstadt locken wird – und damit den Druck auf die Einzelhändler weiter erhöhen. Auch die Nutzung von Büroflächen im Zentrum ist rückläufig. Während sich der Leerstand 2019 mit 400.000 Quadratmetern auf einem Tiefstand befand, sind es 2022 wieder 561.000.

Früher Karstadt Sports, heute Raum für kreative Zwischennutzung. Was bleibt: die Rollschuhbahn auf dem Dach.
Früher Karstadt Sports, heute Raum für kreative Zwischennutzung. Was bleibt: die Rollschuhbahn auf dem Dach.

Die lebendige Stadt

Mehr Leerstand bedeutet weniger Betrieb – eine düstere Perspektive, der Tina Unruh eine bunte Zukunftsvision gegenüber stellt. Neben ihrem Beruf als Architektin ist sie Geschäftsführerin der Hamburger Stiftung Baukultur (HSBK) und stellvertretende Geschäftsführerin der Hamburgischen Architektenkammer. Mit diesem Wissen schwärmt sie von kleinen Maßnahmen – Parkhausebenen auch für Fahrräder bereitstellen – und großen Zukunftsbildern. „Wir brauchen in Hamburgs Innenstadt lebendige Nachbarschaften mit verschiedenen Infrastrukturen, die ein Leben rund um die Uhr ermöglichen.“

„Die Monofunktion erschwert die Transformation, weil andere Nutzungen und Impulse erst mühsam gesucht und eingerichtet werden müssen.“

In Köln würden zum Beispiel viele Menschen in der Innenstadt leben. „In der Hamburger Innenstadt wird nicht gewohnt. Hier haben wir große Straßenzüge, an denen entweder der Handel stattgefunden hat oder Büronutzung. Die Monofunktion erschwert die Transformation, weil andere Nutzungen und Impulse erst mühsam gesucht und eingerichtet werden müssen.“ Tatsächlich wohnen heute in der Altstadt weniger als 2.500 Menschen, zwischen Hauptbahnhof und Rathaus sind es nur noch rund 100. Lebenswert seien aber Innenstädte mit lebendigen Straßenzügen, auch außerhalb der Ladenöffnungszeiten, sagt Unruh.

Aufbau am Sonntag und eine Vernissage nach Sonnenuntergang: Kreative bringen Leben auf die Mönckebergstraße
Aufbau am Sonntag und eine Vernissage nach Sonnenuntergang: Kreative bringen Leben auf die Mönckebergstraße

Nachbarschaften ohne Öffnungszeiten

Wenn Büromenschen Feierabend machen und Einzelhändler*innen schließen, brennt im Jupiter oft noch Licht. Den fünften Stock hat das Team des öffentlichen Fundus Hanseatische Materialverwaltung mit Polstermöbeln und Accessoires in eine gesellige Bar verwandelt. Nur die Rolltreppe verbreitet hier noch etwas Warenhaus-Flair. Auf den nächsten vier Etagen entfalten Galerien, Kollektive und Wissensvermittler*innen ihre Kreativität, nutzen modulare Stellwände, temporäre Sitzgelegenheiten und ideenreiche Einbauten, um die insgesamt 8.000 Quadratmeter ehemalige Verkaufsfläche neu zu gestalten. Als Teil des Programms Frei_Fläche ist der Jupiter eine von 109 Zwischennutzungen in Hamburg. Ateliers und Studios gehören ebenso dazu wie, Shops und Galerien, Arbeits- und Veranstaltungsräume. Insgesamt rund 25.100 Quadratmeter, auf denen Kreative arbeiten.

„Wir dürfen keine beliebigen Räume erschaffen. Starke Räume – und dann ist es fast egal, wofür sie stark gemacht wurden – lassen sich umnutzen, weil sie eine gewisse Atmosphäre, weil sie Charakter haben.“

Nicht immer machen es die Räume den neuen Nutzer*innen einfach, weiß auch Unruh, die selbst mit der HSBK den „Monat Baukultur“ im Jupiter realisierte. Sie kennt 16-Stunden-Tage, Vitamin-D-Mangel im Kunstlicht und fehlenden Kontakt zur Außenwelt. „Das Kaufhaus als Konsumtempel sollte ja dazu verführen, Zeit und Raum zu vergessen und sich ganz und gar den Produkten zu widmen.“ Daher der geschlossene Grundriss, die mäandernden Gänge. „Dass man hier so verloren geht, ist ein bewusstes Mittel dieser Architektur. Trotzdem sieht man ja, dass selbst dieses Gebäude umnutzbar ist.“

Die Rolltreppen sind wohlbekannt: Täglich nutzte Unruh sie während des Monats Baukultur der HSBK
Die Rolltreppen sind wohlbekannt: Täglich nutzte Unruh sie während des Monats Baukultur der HSBK

Die Funktion ist etwas, das kommt und geht

Doch wie sollte künftig gebaut werden, um eine Umnutzung neuer Gebäude stärker mitzudenken? „Es gibt Strukturen, die sich besonders gut umnutzen lassen, weil sie modular sind oder eine gewisse Raumhöhe mitbringen. In zu niedrigen Gebäuden kann ich keine Kabel führen, keine Böden einsetzen. Dann lohnt sich von Anfang an das Denken von Trennung: Ich sollte keine Strukturen, die mehrere Jahrzehnte bestehen, mit Technik verschmelzen, die ich nach einiger Zeit austauschen will.“ Doch noch wichtiger, so die Architektin, seien starke Räume. „Wir dürfen keine beliebigen Räume erschaffen. Starke Räume – und dann ist es fast egal, wofür sie entworfen wurden – lassen sich umnutzen, weil sie eine gewisse Atmosphäre, weil sie Charakter haben.“ Unruh ist sich sicher: Die Funktion ist etwas, das kommt und geht. Wichtig ist der gut proportionierte Raum.

Jede Etage ein eigener Kosmos zum Genießen, Stöbern, Schauen und Anstoßen
Jede Etage ein eigener Kosmos zum Genießen, Stöbern, Schauen und Anstoßen

Konsum erlaubt, aber nicht vorgeschrieben

Auf Ebene 4 begegnen uns zwei ältere Damen, die scheu die Türen öffnen – um zu fragen, was es hier eigentlich zu kaufen gebe. Es scheint ungewohnt zu sein, dass im Jupiter vom ersten bis zum vierten Stock nicht konsumiert werden muss. Das Stromern kostet auch keinen Eintritt. Doch Unruh vertraut darauf, dass wir „es künftig auch üblicher finden werden, uns in Räumen zu bewegen, die nicht nur auf eine einzelne Funktion ausgelegt sind.“

„Hier können wir im Kleinen verhandeln, was draußen im Großen, in ganzen Straßenzügen und Stadtvierteln passiert.“

Ein Stockwerkt tiefer teilt Franziska Jakubik vom Künstler*innen-Kollektiv Kanal 3 ihre Eindrücke: „Wir treffen hier schon auf ein diverses Publikum, die aber nicht immer extra für eine Ausstellung zum Jupiter kommen, sondern auch mal an einer Party interessiert sind. Oder nebenan Klamotten einkaufen waren. Unter der Woche sind es vor allem Tourist*innen und Schüler*innen, die hier gerne ihre Freizeit verbringen.“ Mit der Zugänglichkeit eines Kaufhauses und dem Angebot einer Kunststätte schafft der Jupiter so einen Raum des Austausches und bringt Menschen zusammen, die sich im Alltag sonst selten begegnen.

Tina Unruh, Architektin und Geschäftsführerin der Hamburger Stiftung Baukultur, auf einem Streifzug durch den „Jupiter“
Tina Unruh, Architektin und Geschäftsführerin der Hamburger Stiftung Baukultur, auf einem Streifzug durch den „Jupiter“
Darf im Jupiter nicht fehlen: Kaffee von den Röstlich Brothers im Erdgeschoss
Darf im Jupiter nicht fehlen: Kaffee von den Röstlich Brothers im Erdgeschoss

Das Leben spielt im Erdgeschoss

Ein letztes Mal befördert die gleichmäßige Bewegung der Rolltreppe Tina Unruh auf eine andere Ebene: das Erdgeschoss. Hier können Besuchende mit einem Kaffee der Röstlich Brothers dem Treiben auf der Straße zuschauen und Neugierige von außen Modedesigner Paul Kadjo beim Entwerfen neuer Outfits beobachten. Nice to have? Nein, elementar sei der offene Blick ins Erdgeschoss, betont Unruh, die ihre Kindheit und Jugend in Hamburg verbrachte und später in Neapel, Zürich und New York wohnte.

„Ich wünsche mir das Verbot des Abklebens von Erdgeschossfenstern für alle Städte, egal ob es dahinter belebt ist oder nicht.“

„Ich wünsche mir das Verbot des Abklebens von Erdgeschossfenstern für alle Städte, egal ob es dahinter belebt ist oder nicht. Denn die Stadt, für die wir alle nach Italien fahren, der Grund, warum wir Barcelona und New York lieben, ist die lebendige Stadt. Und ob eine Stadt lebendig wirkt, entscheidet sich auf den Erdgeschossflächen.“ Im Jupiter gibt es mit dem ebenerdigen ISS, dem International Shopping Space, einiges zu sehen.

Leben jenseits der Öffnungszeiten, kostenfreie Kulturangebote, kreativer Freiraum, Konsumfreiheit, Austausch und Transparenz zur Straße: Das sind nur einige der Impulse, die Projekte wie das Jupiter liefern. „Hier können wir im Kleinen verhandeln, was draußen im Großen, in ganzen Straßenzügen und Stadtvierteln passiert“, sagt Unruh und unterstreicht die Relevanz der Zwischennutzungen. Ihr Blick schweift über stöbernde Kunden, kaffeeschlürfende Freundinnen und Kunstinteressierte, die sich neugierig in die oberen Geschosse aufmachen – und verleitet sie zu einem abschließenden Gedanken: Was wäre, wenn aus der Zwischennutzung eine Umnutzung würde?

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