Neben den vielen Dingen, die die Menschen zum Leben brauchen, produziert unsere Wirtschaft vor allem eins: riesige Berge aus Müll, kontaminierte Gewässer, verseuchte Böden und ziemlich viel dicke Luft. Dass das nicht sein muss, sagt die Nichtregierungsorganisation Cradle to Cradle NGO, kurz C2C NGO. 2012 von der Umweltwissenschaftlerin Nora Sophie Griefahn, 31, und dem Wirtschaftswissenschaftler Tim Janßen, 36, in Berlin gegründet, hat die NGO sich zum Ziel gesetzt, eine neue Wirtschaftsphilosophie zu etablieren, die nicht auf linearen Wertschöpfungsketten beruht, sondern auf geschlossenen Systemen, in denen sich Ressourcen immer wieder erneuern. Eine Kreislaufwirtschaft.
Im deutschsprachigen Raum hat der Verein mehr als 800 ehrenamtlich Aktive, die in Dutzenden Initiativen organisiert sind. Sie informieren in Schulen und Unis, sprechen in Unternehmen, organisieren Konferenzen und Kongresse und inspirieren für eine Welt, in der Autos keine Emissionen ausstoßen, Gebäude keinen Sondermüll hinterlassen und kein Mensch auf etwas verzichten muss. Beim Besuch im C2C-Lab in Berlin, das nicht nur das Büro der NGO ist, sondern gleichzeitig als Bildungszentrum und Showroom für viele Konzepte aus dem Cradle-to-Cradle-Kosmos fungiert, erklären Griefahn und Janßen ihre Vision:
Frau Griefahn, Herr Janßen, was genau steckt hinter der Idee von Cradle to Cradle und Ihrer Organisation?
TIM JANßEN: Cradle to Cradle bedeutet „von der Wiege zur Wiege“ oder auch: vom Ursprung zum Ursprung zurück. Es geht dabei um eine andere Art des Lebens und Wirtschaftens. Bislang haben wir mit aller Selbstverständlichkeit der Erde ihre Ressourcen entnommen, Dinge daraus hergestellt und diese Dinge anschließend weggeworfen oder verbrannt. Und wir haben Produkte hergestellt, die uns krank machen, weil sie schädliche Inhaltssto!e enthalten. Unser Selbstverständnis ist, Produkte nicht nur weniger schlecht zu machen, sondern gute Produkte von hoher Qualität zu produzieren, die einen positiven Einfluss auf Mensch und Umwelt haben. Wir wollen, dass der Mensch nicht mehr Schädling ist, sondern Nützling.
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Dass der Mensch ein Nützling ist und einen positiven Beitrag leisten kann, ist Teil der Denkschule von C2C beziehungsweise die erste Dimension von ihr. Die zweite Dimension ist das Designkonzept. Hier geht es darum, schon zu Beginn der Herstellung die benötigten Ressourcen als Rohstoffe für ein neues Produkt zu sehen. Das Schöne an diesem Prinzip ist: Produkte sind nach ihrem Gebrauch genauso viel wert wie zuvor. Sie sind wieder Rohsto!e für neue Produkte. So entsteht ein Kreislauf.
Wie kann das funktionieren? Wir benutzen doch ständig Dinge, die verschleißen.
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Wir unterscheiden zwischen zwei Kreisläufen. Im technologischen Kreislauf zirkulieren Güter, die sich nicht abnutzen, die immer wieder verwendet werden können. Diese Bürostühle hier zum Beispiel sind so gebaut, dass alle Materialien sortenrein voneinander getrennt werden können, um sie danach wiederzuverwenden. Im biologischen Kreislauf hingegen zirkulieren Verbrauchsgüter, deren Abrieb oder Verschleiß bei der Nutzung unweigerlich in die Umwelt gelangen. Das dürfen sie dann auch, solange sie biologisch abbaubar sind. Ein Fahrrad- oder Autoreifen muss also so produziert werden, dass sein Abrieb Nährstoff für etwas anderes werden kann. Also genau das, was uns die Natur seit Jahrmillionen vormacht.
Und solche Reifen gibt es?
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Reifen, die vollständig den C2C-Kriterien entsprechen, gibt es leider noch nicht. Dabei macht der Abrieb von Autoreifen ein Drittel der gesamten Mikroplastik-Emissionen in Deutschland aus. Wenn wir also sagen, dass Autos die Mobilität der Zukunft sind, dann sollten wir das ganze Auto so konzipieren, dass es in beiden Kreisläufen funktioniert. Für den technischen Kreislauf wäre es ein perfektes Rohstofflager. Man muss die Rohstoffe in einem Auto dann aber auch nach der Nutzung zurückgewinnen, anstatt sie nur zusammenzupressen und schlechteren Baustahl daraus zu machen.
Vielleicht können wir Menschen es nicht besser.
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Doch, können wir. Wir müssen aber unsere Art zu wirtschaften ändern. Heute zielt fast alles auf die Effizienz bei der Nutzung eines Produkts ab. Was später mit dem Produkt passiert, darüber denkt kaum jemand nach. Das ist der falsche Ansatz, weil er viel zu kurz greift. Wenn man das Material wiederverwenden würde, wäre die zweite Nutzungsphase viel effizienter. Doch dafür brauchen wir ein neues Verständnis, das nicht nur die Wirtschaft umfasst, sondern die gesamte Gesellschaft. Wir müssen radikal umdenken, in allen Bereichen.
Die Bereitschaft für einen radikalen Wandel ist in der Wirtschaft aber erfahrungsgemäß doch eher begrenzt, oder?
TIM JANßEN: Das war auch mein Eindruck nach sechs Jahren Betriebswirtschaftsstudium, in dem ich mich viel mit Change- und Innovationsmanagement und Entrepreneurship auseinandergesetzt habe. In den Wirtschaftswissenschaften fehlten mir damals insgesamt die ganzheitlichen Lösungsansätze für diese komplexen Herausforderungen von Klima- und Ressourcenkrise. Als ich dann vor zehn Jahren anfing, mich intensiver mit C2C zu beschäftigen, war das in der breiten Bevölkerung überhaupt noch kein Thema. Dann aber habe ich Nora kennengelernt, die sich schon länger mit der ganzen Sache befasst. Wir hatten beide den Drang, etwas zu verändern. Um vordenkende Menschen unseres Bereichs zu vernetzen, Bildungsarbeit zu leisten, das Konzept C2C bekannter zu machen, haben wir dann die NGO gegründet. Heute bekommen wir sehr viele Anfragen, beraten immer mehr Leute aus Wirtschaft und Politik, bekommen sogar Rückenwind von der EU-Kommission. Es tut sich also was.
Einer der Vorreiter auf dem Gebiet der Kreislaufwirtschaft ist der Chemiker Michael Braungart, der auch Ihr Vater ist, Frau Griefahn. Ihre Mutter war Umweltministerin von Niedersachsen und eine der Mitbegründerinnen von Greenpeace Deutschland. Wurde Ihnen das Cradle-to-Cradle-Prinzip wortwörtlich in die Wiege gelegt?
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Nicht unbedingt. Mein Zugang zu dem Thema war eher der, die Welt zu hinterfragen. Damit bin ich schon früh angeeckt. In der Schule habe ich mich nie mit einfachen Antworten zufriedengegeben, wollte immer mehr wissen, die Zukunft gestalten. Und weil mir die Schule das nicht beigebracht hat, habe ich Umweltwissenschaften studiert. Im Studium ging es aber fast nur um Umweltschutz, Nachhaltigkeit und um die Verzicht-Perspektive: Tu dies nicht, konsumiere das nicht, dann bist du ein besserer Mensch. Das war mir zu passiv. Ein bisschen weniger Idiot zu sein, ein bisschen weniger Müll machen, das reicht einfach nicht. C2C war für mich der logische nächste Schritt.
Ist das Bemühen um Nachhaltigkeit sinnlos?
TIM JANßEN: Ein nachhaltigerer Lebensstil ist für die allermeisten Menschen nachvollziehbar und erstrebenswert. Das Problem ist aber, dass es viel guten Willen gibt, aber nur wenige gute Taten. Denn Nachhaltigkeit ist oft nur gut gedacht, aber oft nicht gut gemacht. Mit Recycling und Langlebigkeit ist uns nicht genug geholfen. Auch nicht, indem wir Müll upcyceln oder eine Schuhsohle aus einem alten Autoreifen herstellen.
Warum ist Cradle to Cradle der bessere Ansatz?
TIM JANßEN: Was den Menschen ausmacht, das ist sein Gestaltungswille. Der Mensch will Neues schaffen, immer größer, besser, schöner. Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir den menschlichen Gestaltungswillen nutzen. Wir müssen neue Werte schaffen, anstatt Müll zu produzieren.
Warum haben wir überhaupt angefangen, diese riesigen Massen an Müll zu verursachen?
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Niemand hat sich bewusst dafür entschieden. Aber wir Menschen sind neugierig, erforschen neue Technologien, probieren gerne aus, entdecken neue Materialien. PVC, das unter anderem als Bodenbelag genutzt wird, ist zum Beispiel nur entstanden, weil die Industrie so viel Chlor aus ihrer Produktion übrig hatte. Damals war das ein großer Gewinn, weil das übrige Chlor dann nicht als Waffe genutzt wurde. Ohne Verpackungen für Lebensmittel oder Medikamente würden wir alt aussehen – oder besser: nicht mehr so alt werden. Auf der anderen Seite sind manche Kunststoffe die Pest.
Ist der technische Fortschritt nicht durchdacht?
TIM JANßEN: Ja. Und vor allem schafft unsere Form des Wirtschaftens immer wieder ein ökologisches Ungleichgewicht, und das in sehr kurzer Zeit. Andere Lebewesen sind mit der Umwelt in ständiger Balance. Die Biomasse von Ameisen zum Beispiel ist zwar viermal größer als die des Menschen, aber trotzdem produzieren die Ameisen keinen Abfall. Wir müssen uns klüger anstellen und einen volkswirtschaftlichen Weg finden, der Ressourcen nicht nur schont, sondern wieder neue Ressourcen aufbaut. Die Landwirtschaft muss Böden mit Nährstoffen anreichern, sie fruchtbarer machen und nicht veröden lassen. Gewässer müssen sauberer dadurch werden, dass wir sie nutzen, nicht dreckiger.
Wirtschaften und wachsen, ohne den Planeten zu ruinieren: Wie soll das gehen?
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Natürlich brauchen wir Rohstoffe. Sie zu nutzen ist grundsätzlich nicht verkehrt. Wir schaden der Umwelt ja nicht unbedingt, weil wir Rohstoffe nutzen. Das Problem ist doch: Wir verschwenden Rohstoffe und verlieren sie. Nehmen wir zum Beispiel Kohlenstoff: Wir können ihn nicht einfach in Form von Öl aus dem Boden nehmen und verbrennen, schon gar nicht in dieser Geschwindigkeit. Vor allem reichert sich Kohlenstoff derzeit an den falschen Stellen an. Dabei sollte er unbedingt als organische Ressource im Kreislauf gehalten werden, wieder gebunden werden, zum Beispiel in den Böden. Genauso Phosphor, den wir mitsamt von Pflanzen entnehmen. Wir bringen ihn nicht auf die Felder zurück, sondern verbrennen ihn im Klärschlamm. Nur um dann wieder Phosphor aus Gesteinsminen zu holen und den dann auf die Felder zu bringen, allerdings mitsamt Cadmium und Uran, was unsere Böden verseucht. Wir müssen einfach anfangen, nicht mehr in linearen Prozessen zu denken, sondern in Kreisläufen.
Was sagt denn die Industrie zu Ihrem Ansatz?
TIM JANßEN: Der breite Markt ist noch nicht bereit für das C2C-Prinzip. Märkte mit globalen Lieferketten sind oft komplex, da gibt es viele Abhängigkeiten und unterschiedliche Interessen. Wir müssten ja nicht nur die großen Unternehmen für unsere Idee begeistern, die müssten ja auch alle ihre Partner und Zulieferer mit ins Boot holen. Ein kreislauffähiges Kleidungsstück zum Beispiel braucht einen Stoff, eine Farbe, ein Garn, einen Reißverschluss, einen Knopf – und für jedes Einzelteil hast du als Marke einen eigenen Hersteller. Bei dem stehst du dann in der Produktion, nutzt seit dreißig Jahren dasselbe Garn – und sagst auf einmal: Ich will jetzt lieber wieder Baumwolle statt Polyester nutzen. Geht nicht, sagt der Hersteller, dann reißt der Faden. Außerdem müsste man die Maschinen anders einstellen, vielleicht sogar neue kaufen, damit dein Produkt im großen Maßstab mit einem anderen Garn funktioniert. Und dann musst du dem Hersteller noch erklären, dass nicht der Kunde das wünscht, sondern du, die Marke, die auf einmal Verantwortung übernehmen will. Natürlich bekommst du da Gegenwind. Viele haben einfach keinen Bock auf Veränderung – erst recht nicht, wenn das Geld kostet. Das ist leider ziemlich menschlich.
Kann ökologische Verantwortung überhaupt wirtschaftlich profitabel sein?
NORA SOPHIE GRIEFAHN: C2C kann sich lohnen, weil die verwendeten Materialien wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden. Anfangs ist es vielleicht teurer, weil man Geld in Innovationen stecken muss. Das Unternehmen kann aber selbst entscheiden, ob es die Kosten auf das Produkt umwälzt oder nicht. Was am Ende anders ist: Statt wertvolle Ressourcen zu verlieren, erhalten wir den Wert der Materialien und schaffen darüber weitere Geschäftszyklen.
Was ist mit den kleinen Unternehmen, die nicht das Geld für so ein Wirtschaftsmodell haben?
TIM JANßEN: Tatsächlich sind viele von den kleinen Unternehmen zögerlich. Wenn sie es aber geschafft haben, macht sich der positive Effekt auch finanziell bemerkbar. Es sind doch das Marketing und das Branding, die viel Geld kosten. Arbeiter fair zu bezahlen, den Planeten nicht auszubeuten: Das macht teilweise nur wenige Cent in der Lieferkette aus. Die Unternehmen müssen nur den Mut haben, diesen neuen Standard zu entwickeln und zu etablieren.
Wie kann man diesen Mut steigern?
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Es braucht Leuchttürme, die den Menschen zeigen, dass das möglich ist, und den Herstellern begreifbar machen, dass ihre Rohstoffe etwas wert sind. Der Produzent des Bodens hier bei uns im Büro freut sich zum Beispiel schon darauf, wenn wir seinen Teppich nicht mehr nutzen wollen. Weil er weiß, dass die Qualität super ist und sich das Material noch einmal nutzen lässt. So ist das auch mit unserer Spülmaschine. Die haben wir nicht gekauft, sondern geliehen, wir bezahlen einfach pro Waschgang. Wenn wir die Maschine nicht mehr wollen, gibt sie der Hersteller an jemand anderen weiter.
Gibt es noch andere konkrete Beispiele?
TIM JANßEN: Klar. Beim Sanieren des alten Plattenbaus hier haben wir nur kreislauffähige Materialien verwendet. Der Dämmstoff ist aus Seegras. Die Fenster sind austauschbar, weil verschraubt anstatt mit Bauschaum zugeklebt. Die Trennwände, die hier eingezogen sind, kannst du komplett demontieren und an anderer Stelle wieder einbauen. In Europa gibt es immer mehr Gebäude, die nach dem C2C-Prinzip gebaut werden. In Hamburg beispielsweise entsteht gerade der Wohnkomplex Moringa. Dieses Bauprojekt beweist, dass gesunde und rückbaubare Wohnhäuser möglich sind, die sogar mehr Energie erzeugen, als sie verbrauchen, die die Biodiversität fördern und die auch noch einen Anteil von 30 Prozent sozialem Wohnraum haben.
Und wie sieht es in den anderen Branchen aus?
TIM JANßEN: Viele Verpackungshersteller forschen bereits an kreislauffähigen Konzepten. Manche Druckereien arbeiten inzwischen mit ökologischen Farben. Es gibt Trinkflaschen aus modifiziertem Polyester, der biologisch abbaubar ist. Dann sind da noch Textilriesen wie C&A und Lidl, die die Macht haben, selbst die komplexeste Wertschöpfungskette zu beeinflussen. Es gibt also viele Bereiche, für die es schon jetzt sehr konkrete Lösungsansätze gibt.
Mal angenommen, Sie allein dürften bestimmen, wo es langgeht. Was würden Sie ändern?
NORA SOPHIE GRIEFAHN: Ich fände es sehr wichtig, dass man mit linear hergestellten Produkten, die einfach nur als Müll enden, keinen Profit mehr machen kann. Sonst sind Erfolg und Einfluss auch in Zukunft daran gekoppelt, dass man den Planeten ausbeutet. Dabei hält uns die Marktwirtschaft nicht davon ab, gleichzeitig auch die Umwelt zu schützen. Zum Glück wächst das Bewusstsein dafür von Generation zu Generation. Besitz und Prestige sind heute viel unwichtiger als früher. Diejenigen, die Wohlstand geerbt haben, fragen sich inzwischen vermehrt: Wie soll das weitergehen? Wohin soll das führen? Wollen wir noch reicher werden, auf Kosten anderer, oder grundsätzlich etwas ändern? Wir sehen an vielen Stellen, dass sich etwas verändert – sei es durch die Bewegung Fridays for Future und die politischen Debatten zum Klimawandel, die mediale Aufmerksamkeit für das Thema C2C oder einfach nur das Wachstum unserer Organisation. Wir müssen aber insgesamt ganzheitlicher denken, nicht allein den Klimawandel berücksichtigen, sondern auch die Ressourcenverschwendung, Lieferketten, Arbeitsbedingungen und so vieles mehr. Dafür brauchen wir aber ganz dringend andere politische Rahmenbedingungen.
Dieses Interview erschien zuvor in der Germany-Ausgabe des Nachhaltigkeitsmagazin GREEN.
Autor: Laslo Leyda