Mit Kreativität gegen Autokratie
Londons Botschafter der Kreativwirtschaft Prof. John Newbigin über den amerikanischen Diskurswandel, die ukrainische Kulturszene und kreative Freiräume im Irak.
Londons Botschafter der Kreativwirtschaft Prof. John Newbigin über den amerikanischen Diskurswandel, die ukrainische Kulturszene und kreative Freiräume im Irak.
Herr Newbigin, in vielen Teilen der Welt gibt es eine zunehmende Tendenz zu autokratischen Systemen. Welche Rolle kann die Kreativwirtschaft in solchen Kontexten spielen?
John Newbigin: Autokratische Regime setzen auf Kontrolle, während Kreativität von Offenheit, Vielfalt und Eigeninitiative lebt. Gerade deshalb ist die Kreativwirtschaft oft ein Hort der Meinungsfreiheit und des gesellschaftlichen Wandels, vor allem in Ländern mit repressiven Strukturen. Kunst, Musik, Design und digitale Medien ermöglichen es Menschen, sich zu vernetzen, sich auszudrücken und kritische Fragen zu stellen. Auch dort, wo politische Diskurse unterdrückt werden.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Irak. Dort gibt es trotz der schwierigen politischen Lage eine wachsende kreative Szene, die Frauen eine zentrale Rolle einräumt und alternative wirtschaftliche Perspektiven schafft.
Inwiefern?
Newbigin: In Bagdad und anderen Städten entstehen immer mehr Coworking Spaces, die nach einem bemerkenswerten Prinzip arbeiten: Fünfzig Prozent ihrer Mitglieder sind Frauen. In vielen muslimischen Gesellschaften ist es akzeptabel, dass Frauen Kulturunternehmen führen und sich unternehmerisch und kreativ betätigen.
"Der Irak erlebt trotz anhaltender Konflikte eine erstaunliche kulturelle Renaissance."
Der Irak erlebt trotz anhaltender Konflikte eine erstaunliche kulturelle Renaissance. Die Mode-, Film- und Musikszene ist mit wenig Ressourcen, aber viel Engagement gewachsen. Besonders spannend ist, dass Unternehmen im Kreativsektor oft soziale Innovationen vorantreiben. Sie schaffen Plattformen für junge Talente und fördern die kulturelle Identität in einer Gesellschaft, die von Jahrzehnten des Krieges und der Krise geprägt ist.
Ein ähnliches Phänomen geschieht in der Ukraine. Trotz des Krieges wurde die kulturelle Förderung nicht gekürzt. Warum?
Newbigin: Die ukrainische Regierung hat erkannt, dass Kultur mehr ist als nur Unterhaltung. Sie ist ein wesentliches Element für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Theateraufführungen, Musikveranstaltungen und Comedy-Clubs finden weiterhin statt, solange es die Sicherheitsbedingungen erlauben. Sie dienen den Menschen als seelischer Anker. Viele westliche Länder betrachten Kultur oft als Luxus, den man sich in Krisenzeiten nicht leisten kann. Aber die Ukraine ist der Beweis für das Gegenteil: Sie behandelt die Kultur als etwas, das von grundlegender Bedeutung ist. Das ist ein starkes Signal an die eigene Bevölkerung und an den Rest der Welt. Es unterstreicht, dass Kultur ein Mittel der Resilienz ist.
In London haben Sie das Projekt "Boroughs of Culture" ins Leben gerufen, das positive Auswirkungen auf sozial benachteiligte Gebiete hatte. Wie genau funktioniert das Konzept?
Newbigin: Die Stadt hat einen Wettbewerb initiiert, der jedes Jahr einem der 32 Londoner Stadtbezirke den Status "Borough of Culture" verleiht. Der Gewinnerbezirk erhält eine Million Pfund für Kulturprojekte, und in der Regel bringt die Kommune selbst weitere drei bis vier Millionen Pfund auf. Bemerkenswert ist, dass es sich bei den Gewinnern nicht um die wohlhabendsten Distrikte handelt, sondern vielmehr um solche, die Gebiete mit hohen Armutsquoten umfassen. Die Auswirkungen waren immens: Vor dem Programm sagten die meisten Bewohner*innen, dass sie sich schämten, dort zu leben. Am Ende des Jahres hat sich die Situation um 180 Grad gewendet. Ganze 60 Prozent waren stolz auf ihr Viertel. Kultur kann auch die soziale Identität und das Zugehörigkeitsgefühl stärken.
Die USA erleben eine massive kulturelle Debatte unter Trump. Was bedeutet das für Europa?
Newbigin: Der weltweite Rechtsruck ist besorgniserregend, da er auf Spaltung basiert. Die USA erleben derzeit eine Rhetorik des Kulturkampfes, die an klassische Strategien der extremen Rechten erinnert: Angst verbreiten, Feindbilder schaffen und Unsicherheit fördern. Kultur, Wissenschaft und Medien werden als Bedrohungen dargestellt. Europa muss diesem Trend mit Offenheit und kulturellem Austausch entgegentreten. Vielfalt ist nicht unsere Schwäche, sie ist unsere größte Stärke.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit wird sowohl in der Kreativwirtschaft als auch im Technologiesektor immer wichtiger. Wie entscheidend ist dieser Ansatz für wirtschaftliche Innovationen?
Newbigin: Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist der Schlüssel zu echter Innovation. Steve Jobs hat dies eindrucksvoll bewiesen: Bei der Entwicklung des iPhones setzte er statt eines Ingenieurs einen Designer an die Spitze: Jonny Ive. Jobs verstand, dass Technologie nur dann erfolgreich ist, wenn sie intuitiv und ästhetisch ansprechend ist. Diese Denkweise breitet sich immer weiter aus. Rolls-Royce zum Beispiel stellt Videospielentwickler*innen ein, weil sie über hohe mathematische Kompetenz verfügen, aber kreativer denken als konventionell ausgebildete Ingenieur*innen.
Wenn unterschiedliche Disziplinen zusammenkommen, entstehen völlig neue Ideen – und diese Überschneidungen treiben die wirtschaftliche Innovation voran.
"Wir müssen den wirtschaftlichen Wert der Kreativwirtschaft hervorheben."
In Deutschland sehen wir derzeit massive Kürzungen in der Kulturförderung. Was kann getan werden, um den Kreativsektor zu stärken?
Newbigin: Politische Entscheidungsträger*innen lassen sich am besten mit Fakten überzeugen. Wir müssen den wirtschaftlichen Wert der Kreativwirtschaft hervorheben. Ein gutes Beispiel ist die britische Filmindustrie: Die Regierung hat Steueranreize für TV-Produktionen mit einem Budget von mindestens einer Million Pfund pro Folge eingeführt.
Das Ergebnis?
Seit Einführung der Steuervergünstigungen wird Game of Thrones in Nordirland gedreht. Diese Produktionen haben nicht nur kreative Arbeitsplätze geschaffen, sondern auch Millionen in die Wirtschaft gepumpt.
Welches Land inspiriert Sie, wenn es um Kulturförderung geht?
Newbigin: Albanien. Das Land litt lange unter einem negativen Image, verbunden mit Armut und Kriminalität. Doch die Regierung erkannte, dass sich etwas ändern musste. Sie schuf ein neues Ministerium, das Wirtschaft, Kultur und Innovation verbindet, um jungen Menschen neue Chancen zu eröffnen. Es geht darum, Kreativität als Schlüsselfaktor für die Zukunft anzuerkennen. Wenn ein Land wie Albanien diesen Weg gehen kann, dann kann es jeder. Es braucht nur Mut und den Willen zur Veränderung.